Montag, 22. März 2010

Lalkuthi Morning Call



















Diesmal haben weder übermäßige Faulheit noch wetterbedingte Stimmungsschwankungen die LANGE Verzögerung des nächsten Eintrags verursacht, sondern – ich trau mich kaum, es auszuschreiben – Stress. Um es kurz zu machen: es hat sich ausgekatzt. Mit dem neuen Jahr ist der kalte Wind der Betriebsamkeit in unsere Zimmer geweht und wird seitdem von den Ventilatoren fröhlich im Kreis gewirbelt. Aber wir haben natürlich auch die Fenster geöffnet um ihn hinein zu lassen, den frischen Wind, schließlich sind wir ja nicht zum in der Sonne liegen hier (obwohl unsere Dachterasse langsam einen zunehmend mangnetischen Faktor bekommt). Nachdem Mathieu und ich den Ablauf im Tutorial Lalkuthi* in den ersten Wochen beobachtet und ein bisschen Brainstorming gemacht hatten, haben wir uns zusammengesetzt und überlegt, was für Verbesserungen man wie umsetzen könnte. Man darf nicht vergessen, wir sind Fremde hier und können nicht einfach ankommen und von heute auf morgen alles nach unseren Vorstellungen umkrempeln. Deswegen waren wir auch am Anfang noch sehr zögerlich, weil wir natürlich nicht so gut konnten, wie die Leute auf unsere Aktionen so reagieren würden. Also beschlossen wir, all die Punkte nach Prioriät zu ordnen und den Plan in einzelne Schritte aufzuteilen, die in Quartals- oder Halbjahresabschnitten aufeinander folgen und aufbauen sollten. Körperhygiene stand ganz oben auf unserer Liste, da es eindeutig ein gravierendes und vielleicht auch das offensichtlichste Problem war. Deshalb haben wir dieses als Kern unseres „Morning Call“, der inzwischen schon absolute Routine ist, angelegt, was meiner jetzigen Meinung nach eine sehr gute Entscheidung war. Doch um die Kinder erst Mal in die Schule (also das Tutorial, wir sagen trotzdem immer „school“ dazu) zu bekommen, mussten wir uns auch etwas überlegen, um dem Problem der chronischen Unpünktlichkeit – sowohl der Schüler als auch der Lehrer – entgegenzuwirken. Deshalb haben wir (über Tapas und Sikha) mit den Lehrern vereinbart, dass mindestens eine(r) von ihnen jeden Morgen um 6.45 Uhr da ist, um mit uns die „Wake Up Call“-Runde zu machen. Nun, ich will ehrlich sein, am Anfang hatten wir 6.15 Uhr angepeilt, dann blieb es für eine Weile bei 6.30 Uhr, jetzt schaffen wir (jetzt ist Jasper der „Morning Man“) es selbst gerade so, um Viertel vor pünktlich da zu sein.





Allerdings sparen wir inzwischen natürlich auch einiges an Zeit, weil wir wissen, wo welche Kinder wohnen und wer morgens schon quietschfidel herumspringt, wen man förmlich aus dem Bett werfen muss, usw. Auch dass Jasper viele Namen schon kannte – langsam merk ich mir auch ein paar – war ziemlich hilfreich, genau wie die Tatsache, dass wirklich JEDEN Morgen mindestens drei LehrerInnen da sind, um uns zu helfen. Obwohl ich nach fast zwei Monaten natürlich soweit sagen kann, dass die Befürchtung lächerlich war, aber Anfang Januar standen Mathieu und ich tatsächlich in einem Laden für – keine Ahnung – Metall-Zeugs? um eine Glocke zu kaufen, mit der wir morgens läuten konnten, und haben überlegt, wie laut die Glocke maximal sein darf, damit sich niemand über Lärmbelästigung beschwert. Europäisches Denken halt.Im Endeffekt haben wir bereits nach ein paar Tagen von mehreren Seiten zugetragen bekommen, dass die Eltern der Schüler begeistert darüber wären, dass wir ihre Kinder wecken und sie zur Schule begleiten, und sich ganz und gar nicht gestört fühlen. Nichtsdestotrotz hatten wir unseren Fluchtweg über die Bahn-Plattform (falls uns irgendwer mit fauligem Gemüse bewirft) fest im Hinterkopf, als wir am ersten Morgen wie verrückt die Glocke geschellt (also ich, wer sonst :) ) und „Schooltime! Get ready!“ (Mathieu, ich hatte ja immer noch keine Stimme) gerufen haben. Wir haben Zahnpasta-Pulver verteilt und den Kindern bei Bedarf (=die Mathieus ulkige Zeichenspache nicht vertanden haben) auf Bengali (Vokabelquelle: Lehrer) erklärt, wie man sich die Zähne putzt. Inzwischen putzen sie alle autonom und souverän, muss man sagen, aber hin und wieder schreit Jasper doch nochmal auf und sagt dann irgendwas wie: „NEIIIIIN! Nicht mit Dreck die Zähne putzen! Erde ist Dreck! Kein Dreck im Mund!“ Aber das ist selten, die meisten lernen schnell. Am Anfang haben Mathieu und ich dann ca. 10 Min. vor der Schule gewartet, die Kinder in Zweierreihen aufstellen lassen und ihnen dann am Brunnen die Hände mit antiseptischer Seife gewaschen. Die meisten Kinder hatten das ganz offensichtlich noch nie zuvor gemacht und nach einer kurzen Erklärung, wie man die Hände so wäscht, dass sie auch wirklich sauber sind, haben sie dann fasziniert ihre Finger angestrahlt und immerzu an ihren Händen gerochen, was sehr niedlich zu beobachten war. Ursprünglich hatten wir geplant, die Kinder in den Reihen kurz zu inspizieren, ob Hände, Gesicht, Nägel und Haare soweit in Ordnung sind, aber diese Vorgehensweise habe wir nach drei Tagen gleich wieder eingestellt, weil erstens fast alle dreckig waren und die halbwegs Sauberen sich bestraft fühlten, wenn sie sich nicht waschen durften, und zweitens weil Pünktlichkeit nunmal nicht zu den Tugenden der indischen Kultur gehört und das In-der-Reihe-Warten bei nach und nach eintrudelnden Schülern wenig sinnvoll war. Allerdings läuft dieser Teil der Morgenroutine inzwischen einwandfrei, da die Kinder sich gegenseitig helfen. Innerhalb von ein paar Wochen konnten sie sich soweit selbst organisieren, dass wir inzwischen mehr oder weniger als Aufsicht daneben stehen, aber immer zwei der älteren Schüler die Leitung haben und den Kleineren Seife und Wasser geben, das Handtuch herumreichen und Taschentücher für kleine Rotznasen verteilen.

















Ich muss sagen dieser Teil der Aktion ist schon jetzt jeden Morgen wieder ein Erfolgserlebnis, weil es wirklich toll ist, zu sehen, wie gut sich das Ganze weiterentwickelt. Die Motivation, die ich so jeden Morgen bekomme, versuche ich auch gleich wieder zurückzugeben, mit den „Morning Exercises“, einem kleinen Aufwärmprogramm mit leichten Turn-, Stretch- und Stimmübungen in Verbingung mit englischen Zahlen und dem Alphabet, leichten Vokabeln, usw. aber der Spaßfaktor steht an erster Stelle. So sind die Kinder jeden Morgen aufs neue für Tierlautnachahmungen zu begeistern – und zwar so sehr, dass mich inzwischen die Eltern der Kinder gefragt haben, ob ich nicht bitte das „Huhn“ machen könnte (auf der Straße, in der Öffentlichkeit!), weil die Kinder immer davon erzählen. Und nachdem sich alle groß wie ein Haus und klein wie eine Maus gemacht, wie Tauben gegurrt und wie Tiger gefaucht haben, singen die LehrerInnen mit ihnen die indische Nationalhymne, danach beginnt der Unterricht. In den ersten Wochen bin ich nach dem Morgenprogramm meistens direkt ins Office gefahren, während Jasper (nachdem er zurück gekommen war) normalerweise die komplette Unterrichtszeit dort geblieben ist, um den Kleinsten das Alphabet und die Zahlen bis 100 beizubringen. Er hat bei den Jüngeren auch angefangen, ihnen Buchstaben einzeln beizubringen und nicht immer nur das Alphabet nachzuplappern, auf die Idee ist komischerweise von den Lehrern wohl vorher niemand gekommen. Seit zwei Monaten bleibe ich auch immer da und arbeite mit den älteren Kindern, weil ich den Eindruck hatte, dass viele von ihnen auch deshalb unmotiviert sind, weil sie (zumindest in Englisch) seit Jahren immer dasselbe widerkäuen. Inzwischen sind sie nicht nur enthusiastisch dabei, es werden auch immer mehr, wie es scheint, was natürlich toll ist. Ein guter Rückhalt für uns ist außerdem, dass wir auf der monatlichen Lehrerkoferenz ebensfalls ausgesprochen positives Feedback bekommen haben. Aber – das muss wohl kaum erwähnt werden – natürlich gibt bessere und schlechtere Tage, mehr und weniger motivierte Lehrer, Morgende, an denen man mit einem Hochgefühl im Magen nach Hause fährt und solche, an denen man am liebsten gar nicht aufgestanden wäre. Aber erstere überwiegen bei weitem. Und ansonsten gibt es immer noch Ratnas Morning Chai mit Keksen, die einen unwillkürlich ein Lächeln entlocken, egal, wie griesgrämig man eigentlich gerade dreinschauen will...




*Für alle, die das nicht wissen: Human Wave betreibt mehrere so genannte Tutorials, in denen die Kinder von Kindergarten- bis Gymnasialalter (eigentlich) zusätzlich zum staatlichen Schulunterricht (der so schlecht ist, dass er nicht wirklich zählt), den sie meist selten oder gar nicht besuchen, morgens von 7.00-10.00 unterrichtet werden. Die nächsten Projekte sind Kasbagan, Adashanagore und eben Lalkuthi, das ungefähr 10 Min. mit dem Fahrrad entfernt ist (wenn man indisch fährt). Dort arbeitet die Organisation seit fünf Jahren, es gibt (bisher) einen Klassenraum, in dem fünf LehrerInnen 6 Tage die Woche zwischen 20 und 50 Schüler unterrichten.

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